Die Liebe hört niemals auf...
Ein Freitagabend im Juli 2009. Das Telefon klingelt.
„Sind Sie der Bauchredner und Zauberer Micha? Hätten Sie morgen Abend noch einen Termin frei für einen Auftritt in L.?“
Ich kämpfe mit mir. Ich liebe Auftritte, sie sind ein ganz wesentlicher Teil meines Lebens, ein Stück Lebensqualität. Aber am Sonntagmorgen um 3 Uhr muss ich aufstehen, weil um 6 mein Air Berlin Flug nach M. in Spanien startet. Die Dame am anderen Ende lässt nicht locker.
„Wissen Sie, mein Mann hat Geburtstag, und ich möchte, dass wir noch einmal im Kreise der Familie einen lustigen, unbeschwerten Abend genießen können. Meine Tochter wird nämlich, laut Aussagen der Ärzte, das nächste Jahr nicht mehr erleben. Sie ist sehr krank, wissen Sie. Wir sind noch unschlüssig, ob sie sich eine Nierentransplantation überhaupt noch zumuten sollte. Ihr Bruder würde ihr eine Niere spenden.“
Es wird ein langes Gespräch über Geistheilung, das Leben nach dem Tod, die seelischen Ursachen, die Krankheiten in den meisten Fällen zugrunde liegen und vieles mehr. Natürlich sage ich meinen Auftritt zu und biete der Dame an, ein Foto der Tochter jemandem zu übergeben, der für Kranke betet und dessen Tun schon häufig geholfen hat.
Ich werde das Bild an eine Geistfreundin weitergeben und die Kopie für mich behalten. Von unserem Meister haben wir Exerzitien zur Geistheilung gelernt, die ich in solchen Fällen anwende.
Am nächsten Abend packe ich meinen Hasen Horst, den Storch Fiete und den Frosch, meine Bauchrednerpuppen also, sowie technisches Equipment wie Verstärker und Kopfbügelmikrophon und mache mich auf den Weg. Eineinhalb Stunden später habe ich alles aufgebaut und begrüße mein Publikum. Unter den ca. 40 Gästen entdecke ich eine junge Frau und weiß: Sie ist es. Unter anderem, weil sie der Mutter ähnlich sieht. Eigentlich nicht auffällig, weder wirkt sie krank noch niedergeschlagen. Nach einigen frechen witzigen Sprüchen von Horst, der mich in den kommenden 25 Minuten pausenlos auf den Arm nimmt und zum Teil lächerlich macht, weiß ich: Ich habe sie. Das sagt man als Künstler, wenn man spürt, das Publikum findet die Darbietung toll. Die Leute lachen und sind herrlich ausgelassen. Ich genieße es, den Menschen Freude schenken zu dürfen.
Nach dem Highlight, einem Bauchreden mit zwei Personen aus dem Publikum und einer Zugabe, kommt die Auftraggeberin zu mir und bedankt sich: „Es war sehr schön, alle sind begeistert. Und ich glaube, wir haben unser Ziel erreicht.“
Auf der Treppe begegnet mir die junge Frau, deren Foto ich inzwischen bei mir trage und lächelt mich an:
„Es war toll, ich habe schon lange nicht mehr so gelacht.“
Am nächsten Morgen bin ich pünktlich am Flughafen Düsseldorf und lande nach dreistündigem Flug in Südspanien. Die junge Frau, aber auch ihre liebenswerte Mutter beschäftigen mich immer noch. Wie mag es ihnen gehen, was mag in ihnen vorgehen? Wie verarbeitet man als Betroffener ein solches Schicksal? Lehnt man sich innerlich auf, hadert man mit Gott, wenn man überhaupt seine Existenz angesichts erfahrenen Leides noch für möglich hält? Ich weiß es nicht.
Wie immer gibt es bei der Ankunft in Spanien einen leichten Hitzeschock; die Temperaturen liegen bei über 30 Grad. Ich fahre mit dem Bus nach M. und rufe von unterwegs in unserem Center an. Am Busbahnhof werde ich abgeholt. Eine liebe Freundin wartet mit dem Auto auf mich und begrüßt mich herzlich. Ich bin froh, wieder einmal hier zu sein. Auf der kurzen Fahrt tauschen wir die ersten Neuigkeiten aus. Dann sind wir da. Das große Haus am Hang, eigentlich schon ein Anwesen, der spanische Ableger unserer Stiftung, die mein Meister ins Leben gerufen hatte, ist mein zweites Zuhause.
Nach einer Woche Costa del Sol klingelt morgens unmittelbar nach dem Frühstück mein Handy. Eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, zuerst erkenne ich sie nicht, dann habe ich mich orientiert.
„Herr Schmidt, ich musste Sie noch einmal anrufen. Meine Tochter ist 16 Stunden nach Ihrem Auftritt gestorben. Es war wirklich so, wie wir es uns gewünscht hatten, ich habe sie selten so fröhlich und gelöst erlebt in den letzten Jahren. Und dann ist noch etwas Seltsames passiert. Am Tag der Beerdigung hat es in Strömen geregnet, aber genau in dem Moment, als der Priester zu sprechen begann, brach der Himmel auf, die Sonne zeigte sich und es wurde ein wunderschöner Tag. Als ich am Grab stand, flatterte mir plötzlich, woher auch immer, ein Zettelchen in die Hand. Darauf stand: „Komm, flieg mit mir!“ Heftiges Weinen unterbrach für einen Moment ihren Redefluss. „Alle, denen ich es erzählt habe, meinten, das seien nur Zufälle“, fügte sie schluchzend hinzu. Mir rannen jetzt auch Tränen die Wangen hinunter, und ich hörte mich sagen: „Lassen Sie die Leute reden. Sie und ich wissen, was das zu bedeuten hat.“ Wir verabschieden uns herzlich.
Ich komme zurück zum Frühstückstisch. Alle Hausbewohner und Gäste sind unterwegs, bis auf eine Freundin und mich selbst. Üblicherweise lesen wir morgens in Satsangaufzeichnungen, Tonbandprotokollen von Antworten, die unser Meister auf Schülerfragen gegeben hatte, als er noch lebte. Ein unvorstellbarer Fundus, der nach und nach auf CDs gesichert und abgeschrieben wird. Allmorgendlich lesen wir ungefähr 20 Minuten, dann kommt ein Zeichen ins Buch und am nächsten Tag geht es da weiter, wo wir tags zuvor geendet hatten.
D. schaut mich an: „Heute lesen wir doch sicher nicht, wir sind ja ganz allein.“
„Doch, wir lesen“, antworte ich bestimmt und gebe ihr das Buch in die Hand. Sie beginnt. Eine Schülerin fragt den Meister, wie sie sich verhalten solle. Ein Freund sei an Krebs erkrankt und habe laut Auskunft der Ärzte nur noch kurze Zeit zu leben. Seit er das wisse, sei er total niedergeschlagen und deprimiert, man könne nicht mehr mit ihm reden. Der Meister antwortet, sie solle ihm klarmachen, dass es keinen Grund zur Verzweiflung gebe. Wir müssten alle einmal sterben und dass es ihn nun zufällig etwas früher treffe als die Freundin oder andere Menschen in seinem Umkreis, habe nichts weiter zu bedeuten. Er solle die ihm verbleibende Zeit konstruktiv nutzen und sich mit den uralten Menschheitsfragen auseinandersetzen: Wozu lebe ich, was erwartet mich nach dem Tod usw. Sie solle ihm erklären, er werde im Augenblick seines Ablebens das Gefühl haben, durch einen dunklen Tunnel zu gleiten, aus seinem materiellen Körper austreten und mit seinem Geistkörper seinen Leib von oben aus betrachten. Er werde dennoch wissen, dass er nicht wirklich tot ist und versuchen, sich mit Menschen der Umgebung zu verständigen – ohne Erfolg, da ihm die Werkzeuge dazu fehlten. Er werde ein Licht sehen und er solle ohne Zögern auf dieses Licht zugehen, das ihm mit unvorstellbarer Liebe begegnen werde. Er solle durch das Licht hindurch in die Anderswelt hinüber schreiten, dort werde man ihn erwarten. Bereits verstorbene Verwandte und Freunde würden ihn weiter führen.
So geht es weiter, insgesamt rund 15 Minuten, eine richtige Sterbeanleitung nach dem Vorbild des Tibetanischen Totenbuches.
Als D. endet, sitzen wir eine Zeitlang schweigend und lassen die Worte des Meisters auf uns wirken. Dann schaue ich zu ihr hinüber.
„Du weißt, für wen du das jetzt gelesen hast?“
D. nickt. Ich hatte ihr von meinem Telefongespräch erzählt. Für uns ist klar, dass die „Seele“ der jungen Frau im Raum war. Für sie waren die Hinweise bestimmt gewesen. Nun würde sie wissen, was zu tun war.
Ich bin wieder zu Hause in meiner Zweitwohnung in Krefeld, in der ich Filme, Videobearbeitungsgeräte, Zauberutensilien und eine stetig wachsende Menge Bücher, vor allem über Philosophie und Weltreligionen, aufbewahre. Meine eigentlichen Wohnräume befinden sich auf derselben Etage in einem Altbau, der der Ehefrau meines Meisters gehört und in dem noch, wie auch im Nebenhaus, einige Geistfreunde leben. Das Telefon schellt, meine Heilpraktikerin ist am Apparat. Witzig, ich hatte sie auch anrufen wollen.
„Ich weiß“, lacht sie, „ich bin Ihnen halt zuvor gekommen. Ich wollte nicht, aber man hat es mir aufgetragen. Ich habe gesagt: Okay, wenn er zu Hause ist und Zeit hat, mache ich es. Zuhause sind Sie offensichtlich, aber Sie haben sicher keine Zeit.“ Doch, ich habe.
„Die Räume, in denen Sie Ihre Veranstaltungen machen, hat Ihr Meister darin auch schon gelehrt?“
„Nur in dem Yogaraum hier im Haus, nicht in unseren Seminarräumen. Deren Einweihung hat er leider nicht mehr erlebt. Aber in unserem Stammhaus in Düsseldorf war er sehr oft, dort hat er ja auch einige Jahre gewohnt.“
„Könnte ich den Raum in Ihrem Haus einmal sehen?“
„Gern.“
„Dann bin ich in einer Stunde bei Ihnen.“
Das passt zu ihr, dieses Unkonventionelle, und dennoch bin ich überrascht. Ich hätte nie gedacht, dass meine Therapeutin einmal zu mir kommen würde. Und dann steht sie vor der Tür. Wir gehen sofort durch den Hausflur in den Garten zum Yogaraum, der in den 70-er Jahren entstand. Ursprünglich gehörten die Räumlichkeiten zu einer Metzgerei; hier hinten wurde geschlachtet. Schüler, die bezweifelten, ob das der richtige Rahmen für spirituelle Exerzitien sei, wurden vom Meister belehrt: „Blut ist ein besonderer Saft.“ Hier sprach der Magier aus ihm.
Beim Umbau hatte mein Meister damals zwischen alten Ziegeln ein Tierskelett gefunden. Ein weiterer Grund zum Gruseln. Das war vor Zeiten üblich: Man mauerte eine Katze bei lebendigem Leibe ein, angeblich sollte das vor bösen Geistern schützen.
Frau K. schaut sich im Garten um:
„Das hat etwas Mystisches, Geheimnisvolles, aber auch Heimeliges“, meint sie mit Blick auf den Teich, den Mitbewohner vor kurzem noch mit viel Liebe und Sorgfalt angelegt haben. Ich schließe auf; wir betreten den Vorraum. Ich bitte sie, die Schuhe auszuziehen. Wir treten in den eigentlichen Yogaraum, der vor drei Jahren noch einmal gründlich renoviert worden war. Beiger Teppichboden, weiße Wände mit Bildern der Meister an den Stirnseiten: Sri Yuktesvar, Babaji, Guru Dev (der Meister Maharishis), mein Meister selbst, dazu ein Bild Jesu vom Turiner Grabtuch und ein Holzschnitt, auf dem sie alle versammelt sind, neben den bereits genannten auch noch Bako Batao (der Paramguru) und Yogananda. Das Kunstwerk habe ich von einer Mitschülerin vor Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen, sie hat es selbst mit viel Liebe geschaffen.
Es ist angenehm warm, um 19 Uhr findet hier ein Yogakurs statt. Frau K. sieht sich um, schließt die Augen, nimmt die Energie in sich auf, lässt sie wirken. Dann setzen wir uns auf den Boden.
„Sie hatten mir ja die Biografie ihres Meisters zu lesen gegeben. Ich habe Ihnen auch ein Buch mitgebracht. Es ist allerdings etwas weniger umfangreich. Ich habe etwas aufgeschrieben. Es ist sehr persönlich, und ich möchte mich zuerst vergewissern, dass Sie diese Passagen absolut vertraulich behandeln. Die weniger intimen Details dürfen Sie ruhig weiter erzählen. Möchten Sie es selbst lesen, oder soll ich…?“
Ich habe meine Brille oben in meiner Wohnung gelassen. Frau K. zieht eine Blättersammlung aus der Tasche und beginnt. Der Text erzählt von ihrem Bemühen, allen Menschen zu helfen, die zu ihr kommen. Dann kommt sie auf mich zu sprechen, von dem sie weiß, dass ich einer spirituellen Gruppe, einem Meister angehöre. Sie erläutert, dass sie selbst zwar Reiki Meisterin ist, aber eigentlich von Gurus, Meistern und Sekten gar nichts hält, da sie dahinter pauschal Abhängigkeitsstrukturen vermutet. Sie äußert ihre Trauer darüber, dass ich in ihren Augen unfrei bin. Es folgt eine sehr persönliche Passage, auf die ich aus bereits genannten Gründen nicht eingehen will. Nur so viel sei gesagt: Frau K. ist seit ihrer Kindheit eine aufrichtige Sucherin gewesen, wie so viele Menschen es sind. Und sie schreibt, dass sie gefunden hat, wonach sie sich so sehr sehnte: Ihren Meister Jesus Christus. Sie habe kein Bedürfnis verspürt, sich mit meinem Meister zu beschäftigen. Aber eine innere Stimme habe ihr gesagt, sie könne mich, den Michael Schmidt, nur verstehen, wenn sie seinen Meister kennen lerne. Daraufhin habe sie mich gefragt, ob es nicht ein Buch über ihn gäbe. Ich hätte ihr dann seine Biografie mitgebracht, aber sie habe nicht wirklich Lust verspürt, darin zu lesen. Sie schreibt weiter:
„Die ersten Seiten langweilten mich erwartungsgemäß. Ja, nette Biografie. Ja, Yoga, gute Idee. Ja, Tantra, gute Idee. Es ist auch eine Möglichkeit zur Liebe zu gelangen. Ich kenne einige Tantriker, aber keine Erleuchteten. Es ist nicht mein Weg. Ja, die Lehre ist mir bekannt. F. (sie nennt hier den bürgerlichen Namen des Meisters) heilt, aber nicht im Verborgenen. Auch Michael S. erfährt Heilung. So arbeite ich ja auch.
Ich lege das Buch gelangweilt weg. Nichts Neues für mich. Ich verstehe Michael S., glaube ich zumindest.
Ein paar Tage später komme ich mittags in meinen Dachboden, um mich zu erholen. Es war ein anstrengender Vormittag. Dem Patienten geht es sehr gut. Mein Blick fällt auf das Buch. Ich strecke mich auf der Matte aus und lese.
Der F.! Hat er so viel für andere getan, aber sein Haus kann er allein bauen. Da kommt ein Dankesbrief: Und was ist mit weltlicher Entlohnung? Schließlich muss er Handwerker beschäftigen! Ich lese weiter: Manch einer kann ihn nicht leiden. Ist doch klar, so wie er lebt, und das in den Achtzigern. Er sagt, er macht Fehler. Ist doch klar, er ist doch ein Mensch. Was erwarten eigentlich seine Schüler? Soll er sich in ein Tier verwandeln vor ihren Augen, damit sie ihm Glauben schenken?
Plötzlich habe ich unendliches Mitgefühl mit diesem F. Ich sehe ihn meditieren und fühle die Glückseligkeit, aber auch den unbändigen Wunsch, die anderen mitzunehmen in seine Gefilde. Jetzt bin ich hellwach.
Mensch F., möchte ich rufen, mir ergeht es auch so. Es ist manchmal wirklich schwer. Und in den Achtzigern war es noch viel schwerer, da das Bewusstsein noch gar nicht da war. Mit welcher Demut hast du das angenommen. Du hast gewartet: Wie viel Liebe von deinen Schülern hättest du gebraucht. Jemand hat mich einmal gefragt, ob ich schon mal um Jesus Christus geweint habe. Jesus Christus, der in seiner unendlichen Liebe so viel auf sich genommen hat in einer Zeit, die so dunkel war. Mir laufen die Tränen herunter. Ich umarme Jesus Christus, dann F., aber dann auch mich. Es tut gut.
F. und ich sind fehlbar, und wir dürfen es auch sein dank Jesus Christus, sicherlich auch dank Krishna und Buddha und den vielen anderen, die uns das Tor geöffnet haben.
Ich lege das Buch weg. Es gibt Biografien, so viele es Menschen gibt. F.´s ist nur eine davon. Er hat den Weg gezeigt, den er selbst gegangen ist und den jeder gehen kann, für den es der richtige ist. Aber er konnte nur diesen Weg empfehlen. Wenn einer seiner Schüler diesen Weg nicht gehen konnte, musste er unter Schmerzen zusehen, wie dieser litt, er musste harsch sein, er musste auf die Liebe des Schülers verzichten können. F., ich achte dich!
Michael, las ich, hatte am Anfang das Gefühl, diesem F. nicht vertrauen zu können. Der hatte ihm zwar geholfen, aber war er immer rein, war er fehlerlos, war er gar ein Gottmensch?
F. betonte immer, er sei ein Mensch mit Fehlern. Aber war es das, was Michael hören wollte? Ich behaupte: Nein! F. sollte fehlerlos sein, damit Michael nicht mehr selbst entscheiden und handeln musste. Der Gottmensch sollte ihm alle Verantwortung abnehmen.
F., was muss es dich gekostet haben, auf die wahre Liebe deines geliebten Michael verzichten zu müssen, damit er seinen ureigensten Weg finden konnte? Respekt!! Dieser Mensch F. war mir sympathisch geworden. Ich sah und fühlte seine Schmerzen und sein beharrliches Streben, Glückseligkeit zu erlangen. Und er erreichte sie ja, um dann festzustellen, dass sie ihm allein nicht genügte, er wollte die anderen mitnehmen. Und da stieß er an seine Grenzen, weil er erkennen und akzeptieren musste, dass jeder Mensch in seinem eigenen Prozess steht.
Und wenn F. Mensch war und seine Fehler machte, war da auch ein anderer Mensch, der ihn in den Arm nahm und sagte: >Nicht so schlimm, F., wird alles wieder gut!< ? Oder war da >nur< seine Meditation? Ich weiß es nicht. Ich kannte ihn nicht. Aber in diesem Moment wünschte ich ihm, dass da andere Menschen gewesen sein mochten und er nicht auch noch die Einsamkeit ertragen musste.
Das unangenehme Gefühl, ich könnte mit einer Sekte konfrontiert worden sein, ließ nach. Ich bin dankbar, dass ich das Buch lesen durfte. Ich bin dankbar für die Gefühle der Verbundenheit, die ich erleben durfte.“
Frau K. liest weiter:
„Meine Tage verlaufen wie immer. Ich meditiere jeden Morgen, abends vor dem Einschlafen und zwischendurch, wenn ich Zeit habe; eigentlich bete ich ständig. Ich fühle mich verbunden mit Jesus Christus und den Engeln, die mich ständig begleiten. Manchmal falle ich auch einfach nur in Trance und erwache erfrischt. Manchmal werden mir auch Denkanstöße gegeben. Ich bin ja kein Yogi oder sonst wie Angelernter. Meine Meditation könnte man auch Gebet nennen. Für mich ist es einfach ein morgendliches nach Hause Telefonieren. Während ich so sitze und dem lieben Gott Hallo sage, erscheint plötzlich Michaels Meister. Ich erkenne ihn sofort. Er ist weiß, nein eher champagnerfarben gekleidet mit einem mächtigen Bart. Ich sehe nur die obere Hälfte seines Körpers. Ich bin furchtbar erschrocken. Sofort bete ich zu Gott:
Bitte, Gott, ich möchte keinen Meister. Ich liebe nur dich, Jesus Christus und den Heiligen Geist. Wenn ich mich zu sehr habe beeinflussen lassen, nimm das bitte von mir.
Ich habe richtig Angst (während ich das schreibe, brennt mein Herzchakra richtig und ein Schauer nach dem anderen jagt meinen Körper herauf und hinunter).
Das Bild von Aoananda verschwindet nicht, bleibt eindringlich vor mir stehen. Ich versuche, mir den Menschen F. vorzustellen und mit ihm zu sprechen, aber das gelingt nicht. Der Meister bleibt. Um nicht in Panik zu geraten, bete ich weiter, alles, was mir einfällt, querbeet. Ich weiß, das Bild ist immer noch da.
Langsam spüre ich, wie meine Angst verschwindet, und ich wage einen vorsichtigen Blick auf ihn. Es ist immer noch das gleiche Bild. Und in dem Moment, wo ich mich traue, auf den Meister zu schauen, durchflutet mich eine Welle von Liebe. Ich habe das Gefühl, dass mein Herz auseinander gezogen wird und ich nur noch aus Herz bestehe. Ich sehe deutlich die Stellen, an denen mein Herz verschlossen war und wie es ganz rein und hell wird. Ich fühle die Liebe. Es ist nicht die Glückseligkeit, die ich kenne. Es fühlt sich wie irdische Liebe an, greifbar, direkt lebbar. Ich spüre, wie jede Zelle meines Körpers davon durchflutet wird.
Das wird mir zu viel, ich schlage die Augen auf. Ich bin in meinem Wohnzimmer, aber immer noch in der Liebe. Sofort fällt mir Michael ein und ich weiß, was ich ihm beim nächsten Mal als Behandlung vorschlagen möchte.
Was war das? Keine Ahnung! Jedenfalls ist Michaels Meister einer, der liebt. Er kennt die Liebe. Danke!
Ich kann nicht sagen: Danke, Meister, das ist mir zu fremd. Aber vielleicht hat er gerade das vermisst und vermisst es immer noch.“
Sie lässt die Blätter sinken und schaut mich an. Mir laufen die Tränen herunter und ich fühle, wie auch bei mir sich einige, bisher noch verschlossen gebliebene Kanäle öffnen. Da muss ein Mensch kommen, der nicht zu unserer Gruppe gehört, der kein Schüler meines Meisters ist. Jemand, der zweifelt, dem das alles nicht geheuer ist, der sehr kritisch und misstrauisch solchen Inhalten gegenüber ist - zu Recht, weil es zu viele Scharlatane und vermeintliche Wundermänner gibt, deren vermeintlicher Heiligenschin nichts als heiße Luft ist. Vielleicht habe ich diese Bestätigung von außen einfach noch gebraucht: Mein Meister ist noch immer präsent, er lebt und ist bei uns, bei mir.
Frau K. geht noch mit in meine Wohnung. Sie erzählt mir, dass sie über eine Freundin auf eine Gruppe von Sai Baba Schülern gestoßen war, die spirituelle Lieder sangen (Sai Baba war ein hoch initiierter Meister, der in Indien lebte und Anhänger in allen Teilen der Welt hatte).
Diese Lieder hätten sie sehr berührt, obwohl sie selbst ja in der christlichen Tradition wurzele. Ich erzähle ihr, dass wir auch regelmäßig Kirtans singen und ich auch etliche selbst geschrieben habe. Ich greife zur Gitarre und beginne zu singen. Ich blicke kurz zu Frau K. rüber; sie schaut sehr kritisch.
„Aha“, denke ich, „sie mag es nicht“, schließe meine Augen und mache einfach weiter. Drei Lieder spiele ich ihr vor, unter anderem eine poppige Version des Kyrie Eleison, die ein Freund komponiert hatte.
Als ich geendet habe, strahlt sie mich an.
„Wahnsinn, wissen Sie eigentlich, was das für eine Qualität hat? Mir sind Schauer über den Rücken gelaufen. Und ich habe nicht nur eine Stimme gehört, sondern drei. Das müssen Sie unbedingt ausbauen.“
Wir gehen noch zusammen in ein Cafe und ich erfahre einiges aus ihrem Leben. Eine sehr interessante Frau, zweifellos. Und sie wirkt auf mich sehr authentisch und echt.
Als wir uns verabschieden, beschließen wir übereinstimmend beim „Sie“ zu beiben, weil es uns förderlicher für die therapeutische Arbeit erscheint, als das vertrauliche „Du“. Ich erinnere mich an meine Anfangszeit bei meinem Meister. Bei meinem zweiten Besuch duze ich ihn und stelle erschrocken fest, dass er, wohl aus den gerade genannten Gründen, beim „Sie“ bleibt. Er schätzt mich richtig ein; das „Sie“ schafft eine achtungsvolle Distanz, die es braucht, um mich auf den Weg der Heilung zu bringen. Doch davon später mehr.
Warum sollte Frau K. mir ihre Erfahrung mitteilen? Offenbar war das der Wunsch meines Meisters gewesen. Bei längerem Nachdenken dämmert es mir zusehends. Schon komisch, nun bin ich schon 30 Jahre bei diesem Meister, bzw. in der Gruppe, und hege immer noch Restzweifel. Was mich tröstet: Auch Vivekananda, Meisterschüler des großen Ramakrishna, hat sehr lange gebraucht, bis er endlich sein Misstrauen abgebaut hatte. Dabei habe ich genau wie er unzählige Bestätigungen erhalten. In jüngster Zeit eine, die auch schon mit meiner Therapeutin zu tun hatte:
An einem Mittwoch im Juni 2009 fahre ich zu ihr in den kleinen verträumten Ort am Niederrhein, nur knapp 25 Minuten von meiner Wohnung entfernt. Es geht mir gut. Seit der Kontaktaufnahme mit ihr hat sich meine Situation kontinuierlich verbessert. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass ich noch einmal eine Therapie nötig haben würde, aber seit sich meine Frau vor einem halben Jahr von mir getrennt hat, bin ich noch einmal in eine tiefe Lebenskrise gestürzt. Selbstzweifel, Resignation, Trauer, Hilflosigkeit; ich fühle mich im Stich gelassen, allein, einsam. Lange Zeit will ich es nicht wahrhaben und bin überzeugt, dass sie zurückkommen wird. Sie muss doch erkennen, wie sehr ich sie liebe. Nichts passiert, und ich beginne, mich mit der neuen Situation zu arrangieren. Ich fange buchstäblich bei Null an.
Eine liebe Freundin, selbst Ärztin, ruft an und ich erinnere mich: Noch vor einigen Monaten war sie selbst in einer psychischen Ausnahmesituation gewesen. Ich hatte damals tatsächlich Angst, dass sie sich etwas antut und hatte nicht den Eindruck, dass es Licht am Horizont für sie gab. Jetzt geht es ihr gut; sie lebt in einer harmonischen Partnerschaft und selbst die Belastungen im Beruf, denen sie sich nicht gewachsen fühlte, haben viel von ihrer Brisanz verloren. Sie hat mehrere Therapien durchlaufen, aber von Beginn an hatte ich den Eindruck, dass vor allem eine sie maßgeblich geprägt und ihr Heilung gebracht hatte. Wie genau die Behandlung im Einzelnen aussah, wusste ich nicht. Ich erinnerte mich nur, dass ich schon damals, als es mir selbst noch gut ging, den starken Impuls verspürt hatte, mich mit ihrer Therapeutin in Verbindung zu setzen. Jetzt war es so weit. Ich ließ mir die Adresse, Telefonnummer und Homepage nennen und erfuhr, dass sie aus dem Ruhrgebiet in unsere Gegend an den Niederrhein gezogen war. Ein Grund mehr, Kontakt aufzunehmen.
Mittlerweile bin ich seit einem halben Jahr bei ihr, im Schnitt einmal pro Monat, anfangs etwas häufiger. So viel dazu, später mehr zum Verlauf meiner Heilung.
Ihre Praxis befindet sich im Keller ihres Hauses am Rande einer kleinen Siedlung. Ich schelle. Sie öffnet, wir begrüßen uns herzlich. Auf dem Weg nach unten fragt sie mich, wie es mir geht. Sie freut sich, denn ich habe eigentlich nur Positives zu berichten. Der Behandlungsraum ist nicht sehr groß: Schreibtisch, je ein Stuhl davor und dahinter, seitlich eine Liege. Wir setzen uns und kaum habe ich mich niedergelassen, beginne ich zu weinen. Erst verhalten, dann hemmungslos. Sie schaut mich an, wartet, bis ich mich ein wenig beruhigt habe.
„Herr Schmidt, was ist?“
„Ich weiß es nicht“, antworte ich schluchzend, „mir geht es gut, es gibt eigentlich keinen Grund.“
„Sie wissen, dass wir nicht alleine sind?“
„Ja, ich spüre es. Ist mein Meister da?“
„Richtig. Wo spüren Sie ihn?“
„Hier, hinter meiner linken Schulter müsste er stehen.“
„Stimmt. Und er lacht. Er scheint viel Freude an Ihnen zu haben.“
„Das bezweifle ich“, werfe ich schmunzelnd, immer noch unter Tränen, ein, „aber es passt zu ihm.“
Am nächsten Morgen sitze ich wie üblich in meinem Meditationsraum. Wie immer brennt eine weiße Kerze am Altar mit den Bildern von meinem Meister, Jesus Christus, Shri Yuktesvar, Bako Batao. Ein Räucherstäbchen verströmt den charakteristischen Duft. Ich sitze im Lotossitz, die Augen geschlossen. Plötzlich knistert die Kerzenflamme, ein Zeichen, dass eine Wesenheit da ist. Ich öffne einen Spaltbreit die Augen und bemerke erstaunt, dass sich der Vorhang in der Türfüllung vor mir links und rechts unten wie durch einen Luftzug ganz deutlich gleichmäßig vor und zurück bewegt, obwohl er doch auf dem Boden aufliegt. Ich habe aber in keinem der Räume ein Fenster geöffnet, auch die Eingangstür ist fest verschlossen. Dennoch rutsche ich ein Stück nach vorn und prüfe mit der Hand, ob nicht doch ein Lufthauch zu bemerken ist. – Nichts! Ich nehme also an, dass der Meister im Raum ist und begrüße ihn zaghaft:
„Hallo AO. Schön dass du da bist.“
Die Bewegungen hören sofort kurzzeitig auf, um dann wieder einzusetzen. Ich freue mich über die Anwesenheit meines Meisters und begebe mich zurück in die Meditationshaltung. Als ich kurze Zeit später die Augen wieder öffne, ist alles wie immer, der Vorhang bewegt sich nicht mehr. Das Erlebnis bewegt und beschäftigt mich aber in den kommenden Tagen. Wie schön wäre es, wenn ich ständig in Kontakt mit ihm stünde, mit ihm sprechen könnte, wie ich es früher getan habe, als er noch lebte. Wie hatte er immer gesagt:
„Es wird der Tag kommen, da werdet ihr wünschen, ich sei noch bei euch, damit ihr mir Fragen stellen könntet. Nutzt die Zeit, solange ich noch als Mensch unter euch bin.“